Wo geht es hier zum Krimi? — Eine Meditation

20. Mai 2016 — Trends des Tages

nachtbibliothekar
2 min readMay 20, 2016

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Lange Zeit hat er mich täglich begleitet. Seine Geschichten von zerstörten Beziehungen, von Psychopathen, von brutalen Kerlen und Weibern, von korrupten Polizisten und einer kaputten, sich selbst zerstörenden Gesellschaft. Gier, Hass und Tod waren meine Begleiter. Ja, und dann gab es da auch noch die heiteren Geschichten, die skurrillen Typen, die schrägen Szenen. Der Krimi ist vielseitig und der Eindruck täuscht vielleicht nicht, dass jeder Leserwunsch irgendwie auf dem Papier erfüllt werden soll. Nur mir ist er irgendwann abhanden gekommen.

Meine Lesebiographie ist reich, von der frühen Klassikerliebe über die philosophischen Exkursionen bis hin eben zum Krimi. Dann verschwand er plötzlich, spurlos. Vielleicht gab es in meinem Leben zu viel reales Leid, zu viel Tod. Ich mochte nicht mehr. Vor allem die Klassiker lockten und locken weiterhin. Lese- und Lebenszeit ist begrenzt, warum also den nächsten, schlecht geschriebenen Blutporno lesen, wenn im Regal all die “großen” Namen stehen, die die Kanonvorbeter anpreisen. Wenn etwa das bunte Spektrum der englischen Literatur leuchtet und entdeckt werden will. Wenn die Antworten auf die großen Fragen des Lebens möglicherweise in diesen alten Schwarten stehen — und eben nicht in dem schnell hingeschriebenen Actionreißer.

Leise und schüchtern stellten sich dann die Krimiklassiker in den Vordergrund. Die, die bis heute jeder Krimileser kennt und vor allem die, die der Vergessenheit anheim gefallen sind. Sie sind oft schärfer, klarer, auf den Punkt. Sie haben eine Strahlkraft, die über die Jahre zugenommen hat. Das alleine macht sie interessant.

Im letzten Jahr erschien Sarah Weinmans Romansammlung »Women Crime Writers: Eight Suspense Novels of the 1940s & 50s«, in der sie acht Kriminalromane von fast vergessenen Autorinnen zusammengestellt hat. Drei von diesen Romanen habe ich bereits gelesen und bin fasziniert. Von Vera Casparys »Vera«, einer melancholischen Geschichte über die Selbstbehauptung einer jungen Frau in der Welt der verwirrten Männer, von Helen Eustis wunderbarer College-Geschichte »The Horizontal Man«, die für mich eine großartige Replik auf Dorothy L. Sayers »Gaudy Night« und zugleich eine Abrechnung mit dem Begriff der “weiblichen Hysterie” ist. Und schließlich Dorothy B. Hughes Serienmörder-Roman »In a Lonely Place«, der eigentlich Pflichtlektüre für alle modernen Autorinnen und Autoren sein sollte, die glauben, sie müssten der Nachwelt einen weiteren psychopathischen Serienkiller präsentieren. Hughes kriecht so unnachgibig in das Hirn eines Frauenmörders, wie ich es noch nie gelesen habe.

Fünf weitere Romane warten noch auf mich. Ich bin dankbar, dass ich diese Autorinnen entdecken darf. Sie haben mich zurückgeholt in die Welt des Krimis, der hier seine ganzen Facetten zeigt. Eine Welt der zerstörten Beziehungen, der korrupten Polizisten und der kaputten Gesellschaft. Schließlich gehören sie jetzt zu meinem Leben.

Lest doch, was Ihr wollt!

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aka karl ludger menke - human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | t.b.c.