Aus den Aufzeichnungen

Die Notwendigkeit, ein Tagebuch zu führen

Freitag, 5. Oktober 2018 — Trends des Tages

2 min readOct 5, 2018

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Letzte Nacht hat mich der Tod besucht. Seit meinen Kinderzeiten kommt er immer wieder einmal vorbei, überraschend, unerwartet. Manchmal am Tag, manchmal in der Nacht schaut er vorbei. Ruhig setzt er sich mit seiner strahlenden Kälte neben mich. Niemand kann ihn sehen, auch ich nicht. Aber ich spüre ihn neben mir. Seine Begleiter sind die Angst und die Stille, die sich im Raum tänzelnd bewegen.

Als mein Großvater schwer krank war, ist er das erste Mal zu mir gekommen. Ich lag alleine in meinem großen Kinderbett — alle Betten in unserem Haus waren sehr groß — in meinem Zimmer, aufgeweckt von den Stimmen draußen im Flur. In dieser Nacht spürte ich vielleicht das erste Mal jene Einsamkeit, die jeden Sterbenden begleitet. Jeder von uns stirbt alleine. Mein Großvater ist in dieser Nacht nicht gestorben, erst viele Jahre später wurde er an einem Wintertag in ein Krankenhaus gebracht. In der Nacht ist er dann gestorben. Nicht in seinem schweren Bett zuhause, wie er es sich gewünscht hatte.

Oma starb viele Jahre früher, ich war noch sehr jung. Vermutlich zu jung, um zu verstehen, was da geschah. Sie starb weit weg von zuhause, in einer Universitätsklinik. Auf den Fließen im Flur ihrer Wohnung fand ich am nächsten Tag einen kleinen, braunen Blutfleck. Er war von meiner Oma, bevor sie ins Krankenhaus kam. Damals habe ich den Tod nicht gespürt, nur der Blutfleck ist mir in er Erinnerung geblieben. Seitdem ahnte ich, dass der Tod ein regelmäßiger Besucher sein würde.

Letzte Nacht ist der Tod schnell wieder verschwunden. Der Schlaf hat ihn vertrieben. Träume eilten herbei, so wie in fast jeder Nacht. Als ich heute morgen erwachte, an diesem frischen, blauen Herbsttag, wusste ich, dass ich diese Erinnerungen aufschreiben sollte. Manchmal spricht der Tod auch mit mir, in seiner eigenen Sprache. Diese Gespräche möchte ich nicht vergessen. Es erscheint mir notwendig, sie aufzuschreiben. Was bleibt sonst von mir?

Guten Morgen.

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aka karl ludger menke - human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | t.b.c.