Aus den alten Büchern: Dracula — Geschichte einer Sucht

26. Mai 2016 — Trends des Tages

nachtbibliothekar
5 min readMay 26, 2016

--

Lange Zugfahrten werden mit langen Lektüren kürzer. So begleitete mich am vergangenen Wochenende eines der Bücher, die ich als eines meiner Lebensbücher bezeichne: Bram Stokers »Dracula«. Wann ich den »Vampirroman« das erste Mal gelesen habe, kann ich nur noch ungefähr datieren. Es muss während meiner Studienzeit gewesen sein, als mein Interesse für das, was die Literaturwissenschaft als »Gothic Novel« bezeichnet, sehr groß war. Es war die schichte Ausgabe in der »Bibliothec Dracula«, gedruckt auf schlechtem, mittlerweile brüchigem Papier, übersetzt von Stasi Kull, die erstmals 1897 erschienen ist. Im Laufe der Zeit fanden weitere Ausgaben den Weg in meine Bibliothek, besonders Leslie S. Klingers »The New Annotated Dracula« gehört für mich zu den wichtigsten Ausgaben. Das dieser Text, der 1897 erstmals das Licht der literarischen Öffentlichkeit erblickte, bis heute eine solche Strahlkraft für mich hat, liegt auch an seinen unterschiedlichen Lesarten. Auf der letzten Zugfahrt ist für mich eine neue hinzugekommen: Der Roman als Geschichte einer Sucht.

Wer mag, der kann »Dracula« einfach als Schauergeschichte lesen, mit dem einsamen Schloss des Grafens in den Bergen Transsylvaniens, dem entsetzlichen Heulen der Wölfe in der Nacht, den verschlossenen Türen und den verängstigten Bewohnern in der Umgebung. Ebenso ist »Dracula« eine Geschichte über die Kraft der unterdrückten Sexualität, die die viktorianischen Moralvorstellungen untergräbt. Die drei wollüstigen Frauen mit ihren scharfen Zähnen im Schloss des Grafens, die eines Nachts über den verängstigten Jonathan Harker herfallen und ihn fast beißen, während Harker schwankt zwischen Begehren, Abscheu und den Erinnerungen an seine Verlobte Mina Murray. Oder die zum Vampir mutierte Lucy Westenra, die als Untote bei einem letzten Aufbeben versucht, ihren Verlobten Arthur Holmwood zu verführen, kurz bevor ihr der erlösende Pfahl durch das Herz geschlagen wird. »Dracula« enthält ebenso phantastische Elemente — der Graf, der sich in Eidechsen, Hunde oder eben in Fledermäuse verwandeln kann, der über die »Kinder der Nacht« und die Naturgewalten herrscht — wie auch als der Versuch, mit den rationalen Mitteln des Artzes Abraham Van Helsing gegen diese ungeheuren Erscheinungen anzugehen. Moderne trifft auf Aberglauben und Mystik, das im Umbruch befindliche England trifft auf das Exotische und Fremde in Transsylvanien. All diese Lesarten, und sicher noch einige mehr, zeigen eine bildreiche, schillernde Erzählung, bei denen allerdings oft die Hauptfigur — Graf Dracula — ausgeblendet wird. Stokers Erzähltechnik, in der sich Tagebuchaufzeichnungen und Briefe der Vampir-Opfer und -Jäger wie Jonathan Harker oder Abraham Van Helsing mit Zeitungsausschnitten abwechseln, beleuchtet immer nur indirekt den Grafen. Er selbst kommt nie direkt zu Wort.

Es gibt eine Stelle, die auf die Qualen des Grafen, seiner Sucht nach Blut, hinweist. Als die Vampirjäger zusammen kommen, um dem trickreichen Dracula zu vernichten, spricht Mina Harker, gebürtige Murray (mittlerweile ist sie verheiratet mit Jonathan) folgende Bitte aus:

»Jonathan dear, and you all my true, true friends, I want you to bear something in mind through all this dreadful time. I know that you must fight. That you must destroy even as you destroyed the false Lucy so that the true Lucy might live hereafter. But it is not a work of hate. That poor soul who has wrought all this misery is the saddest case of all. Just think what will be his joy when he, too, is destroyed in his worser part that his better part may have spiritual immortality. You must be pitiful to him, too, though it may not hold your hands from his destruction.«

Mina ist mittlerweile selbst vom Bösen des Grafen infiziert, bangt um ihre seelische und körperliche Reinheit und weiß, was zu tun ist, damit sie sie wieder erlangt. Die Zerstörung des Bösen. Es ist die arme Seele Draculas, deren furchtbaren Seiten getötet werden müssen, damit der gute Teil Eingang in die Ewigkeit finden kann. Natürlich spricht hier eine zutiefst christliche Frau, deren Glauben an Gott und an eine göttliche Gerechtigkeit selbst in diesen schlimmen Zeiten unerschütterlich ist. Sie spricht über einen Menschen, in dessen Seele das Böse verankert: Der unendliche Blutrausch.

Als historisches Vorbild für Stokers Dracula gilt Vlad Țepeș, Vlad, der Pfähler, auch wenn es Stimmen gibt, die dies bestreiten. Das der historische Vlad Țepeș den Beinamen »Drăculea« erhielt — Sohn des Drachens — deutet schon auf die immanente Bösartigkeit des Vlad hin. Er soll seine Opfer gefoltert und gepfählt haben, dem Blutrausch erlegen. Ähnlich, wie später die literarische Figur Draculas, der seinen Zustand als Untoter mit dem frischen Blut aufrecht erhält. Hier wird das Blut, der Lebenssaft zur Droge, zur Abhängigkeit. Dracula wechselt zwischen dem katatonischen, totenähnlichen Schlaf am Tage und der rastlosen Jagd auf neue Opfer, deren Blut er trinkt, in der Nacht. Draculas Seele ist die eines Abhängigen, die immer wieder den neuen Kick sucht , womöglich um seine Gräueltaten dem kurzen Vergessen anheimzugeben. Seine Wandlungsfähigkeit ist dabei so geschickt, dass er sich fast allen Situationen anpassen kann, solange sein Blutdurst gestillt wird. Das ein Vampir sich nicht im Spiegel sieht — ein deutliches Zeichen dafür, dass ein Süchtiger sich selbst nicht wirklich sehen kann, kein Selbstbildnis hat. Und wie sooft bei den Mechanismen der Sucht werden seine Opfer (Lucy Westenra, der geistesgestörte und von seinem “Herren” Dracula abhängige Renfield) zu Co-Abhängigen und im schlimmsten Fall zu Mittätern.

Der Teufelskreis der Sucht, des Blutrausches, kann nur unterbrochen werden, wenn dem Untoten der Pfahl durchs Herz gestoßen wird und sein Kopf vom Körper (!) abgetrennt wird. Herz und Kopf, die vergifteten Körper- und Seelenteile, müssen getrennt werden, um endlich in der im christlichen Glauben verankerten Ewigkeit den Frieden zu finden. Erst dann wir die Seele wieder rein. Die Qualen, die hier sowohl der Untote wie auch diejenigen, die die guten Seiten der Seele retten wollen, sind dabei unfassbar groß. Entgiftung von dem, was das Böse antreibt, ist sehr schmerzhaft. Und danach bleibt nur die Hoffnung auf das, was eine göttliche Gerechtigkeit diesen Untoten widerfahren lässt — die endgültige Abkehr vom Suchtmittel.

Was Sie noch wissen sollten — eine Auswahl der »Dracula«-Ausgaben

  • Bram Stoker: The New Annotated Dracula / Edited with a foreword and notes by Leslie S. Klinger. Introduction by Neil Gaiman. — New York (u.a.) : W. W. Norton, 2008
    ISBN 978–0–393–06450–6
  • Bram Stoker: Dracula / Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. — Göttingen : Steidl, 2012
    ISBN 978–3–86930–462–5
  • Bram Stoker: Dracula / Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Bossier. Nachwort von Elmar Schenkel. — Stuttgart : Reclam, 2012
    ISBN 978–3–15–010800–0
  • Bram Stoker: Dracula / Ein Vampirroman. Vollständige Übersetzung des Textes von 1897 von Stasi Kull unter Verwendung älterer Übertragungen. — Herrsching : Pawlak
    (Bibliothec Dracula)
    ISBN 3–8224–1301–1 (Teil 1)
    ISBN 3–8224–1302-X (Teil 2)

Elektronische Ausgaben / E-Books

Lesen Sie wohl!

--

--

aka karl ludger menke - human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | t.b.c.